Es ist der Vortrag, den ich am 12. Oktober 2010 beim Unternhemen Freudenberg in Weinheim gehalten habe. Der Anlass war die Eröffnungszeremonie der Japan-Ausstellung in dem Unternehmen.



Deutschland aus Sicht eines Japaners

Toru Kumagai

Weinheim, 12. Oktober 2010

 1                    Einleitung

Meine sehr geehrte Damen und Herren,

ich möchte mich herzlich bedanken, dass Sie mir eine Gelegenheit gegeben haben, hier einen Vortrag zu halten. Es ist eine große Ehre für mich. Ich möchte Sie beglückwünschen, dass Sie dieses Jahr das 50jährige Jubiläum zur Begründung der Partnerschaften mit den japanischen Unternehmen feiern.

 Ich freue mich sehr, dass Ihr Unternehmen solch eine lange, enge Beziehung zu meiner Heimat hat.

Ich möchte mich Ihnen kurz vorstellen. Ich bin in Tokio geboren und habe in Japan Volkswirtschaftswissenschaften studiert.  

Ich habe 8 Jahre beim japanischen öffentlich-rechtlichen Fernsehsender NHK (Japanisches Fernsehen) als Redakteur und Korrespondent gearbeitet. Als Fernsehreporter habe ich nicht nur in Japan, sondern auch in Deutschland, Polen, der damaligen Sowjetunion, in den USA und Nahost recherchiert. Ich habe auch als Auslandskorrespondent in Washington DC über die amerikanische Politik berichtet.

Seit 20 Jahren wohne ich in München und arbeite als freiberuflicher Journalist für verschiedene japanische Medien.

Bisher habe ich 10 Bücher über Deutschland in Japan veröffentlicht und schreibe gerade mein elftes Buch über Deutschland.

Sie haben bestimmt nicht viele Japaner getroffen, die hier 20 Jahre lang arbeiten. Ich bin in der Lage, zwei Länder zu vergleichen, weil ich in Japan aufgewachsen bin und gleichzeitig Deutschland relativ gut kenne. Deswegen möchte ich Ihnen heute über meine Beobachtungen und Eindrücke in der deutschen Gesellschaft erzählen.

2.  Arbeit und Freizeit

Kurz nach meiner Ankunft in Deutschland in 1990 fiel mir der große Unterschied im Berufsleben zwischen Deutschland und Japan auf. Es beginnt mit den Urlaubstagen. Ich war beeindruckt zu sehen, dass Arbeitnehmer in Deutschland ca. 30 Tage bezahlten Urlaub nehmen dürfen.

Wenn ich meinen Landsleuten darüber erzähle, beneiden sie deutsche Arbeitnehmer.

Die meisten Japaner haben jedes Jahr nur 17 Tage Urlaub auf dem Papier, aber viele nehmen nur 9 Tage. Ich habe einen japanischen Bekannten gefragt, warum er nur eine Woche Urlaub nimmt.

Er hat mir gesagt, dass er den Rest für den Fall spart, dass er krank wird. Er könnte sich zwar krankschreiben lassen, aber es würde gegenüber dem Arbeitgeber schlechten Eindruck machen, wenn er sich krankschreiben lässt. Aus diesem Grunde nimmt er Urlaub, wenn er krank wird.

Vor 20 Jahren gab es in Deutschland mehr Arbeitnehmer als heute, die außer Urlaub auch noch in die Kur gegangen sind.  Ich war erstaunt zu hören, dass die gesetzliche Krankenkasse die Kosten für einen Kuraufenthalt übernommen hat. Das wäre in Japan unvorstellbar.

Laut einer Umfrage nehmen die Japaner die wenigsten Urlaubstage unter den 12 Industrieländern. 94% der befragten Japaner haben geantwortet, dass sie nicht alle Urlaubstage nehmen, die ihnen zustehen. In Deutschland war dieser Anteil nur 25%.

Ich begrüße es, dass deutsche Arbeitnehmer Recht auf 6 Wochen Urlaub haben, weil man sich Zeit für Familie nehmen und sich regenerieren kann. Ich finde das Verhältnis zwischen Berufsleben und Privatleben in Deutschland viel ausgeglichener als in Japan.

Deutschland hat in den letzten 20 Jahre zum Teil schwere Rezession und Wirtschaftskrise erlebt. Ich finde es bemerkenswert, dass die gesetzlich vorgeschriebenen Urlaubstage trotz der Krise nicht gekürzt wurden.

Mich hat auch die relativ kurze Arbeitszeit in Deutschland beeindruckt. In Deutschland darf die Arbeitszeit pro Tag im Prinzip 10 Stunden nicht überschreiten. Ich fand es interessant, dass der Großteil der Arbeitgeber in Deutschland diese Regel einhält.

In Japan ist zwar die gesetzliche Arbeitszeit pro Tag auf 8 Stunden beschränkt, aber viele Arbeitnehmer arbeiten länger als 8 Stunden. Ich erinnere mich, dass ich in Japan jeden Werktag von 10 bis 23 Uhr gearbeitet habe. Einmal konnte ich 3 Monate lang keinen Tag frei nehmen, inklusiv Wochenende, weil ich über einen wichtigen Kriminalfall recherchieren musste.

Trotzdem wurde mein damaliger japanischer Arbeitgeber vom Gewerbeaufsichtsamt nicht angezeigt. Ich muss hinzufügen, dass der Journalismus in Japan besonders viel Zeit in Anspruch nimmt, und dass die Arbeitszeit im Industrieunternehmen oder Finanzunternehmen nicht so extrem lang wie bei der Presse ist.

Der internationale Vergleich zeigt aber deutlich, dass die durchschnittliche Jahresarbeitszeit der deutschen Arbeitnehmer am kürzesten unter den Industrieländern ist. Laut einer Statistik der OECD ist die Jahresarbeitszeit der Deutschen um 19% kürzer als die der Japaner und um 21% kürzer als die der Amerikaner.

Ein japanischer Bekannter von mir hat mich gefragt, warum die Deutschen ihre hohe Wirtschaftsleistung aufrechterhalten können, obwohl sie viel kürzer als die Japaner arbeiten.

Ich bin nach der Beobachtung in den letzten 20 Jahren in diesem Land zur Ansicht gelangt, dass die Deutschen effizienter als die Japaner arbeiten. Einer Statistik der OECD zufolge war das Bruttosozialprodukt pro Kopf in 2008 in Deutschland um 5% höher als in Japan.

Das bedeutet, dass die durchschnittliche Wertschöpfung der Deutschen höher als die der Japaner ist, obwohl die Deutschen viel kürzer als die Japaner arbeiten und viel mehr Urlaubstage als die Japaner haben.

Woher kommt die höhere Effizienz? Ich habe den Eindruck, dass die Deutschen versuchen, die Rahmenbedingungen durch Regeln, Arbeitsanweisungen oder Richtlinien zu bestimmen und den Mitarbeitern mehr Selbständigkeit und Entscheidungsbefugnis als in Japan zu geben.

In diesem Land ist die Selbständigkeit viel stärker als in Japan gefragt. In einem japanischen Unternehmen ist der Abstimmungsprozess viel zeitaufwendiger und komplizierter als in Deutschland. Man legt in Japan großen Wert darauf, jede kleine Einzelheit mit den Vorgesetzten und Kollegen abzustimmen.

Manche Japaner, insbesondere ältere Generation sehen die lange Arbeitszeit und die bloße lange Präsenz am Arbeitsplatz als Zeichen der Loyalität gegenüber dem Unternehmen. Viele Japaner gehen nicht nach Hause, wenn ihr Vorgesetzter noch im Büro arbeitet.

Obwohl die meisten japanischen Arbeitnehmer ihren eigenen Rechner am Arbeitsplatz haben, gibt es immer noch Unternehmen, wo die Mitarbeiter einen Computer teilen.

3. Vertrag und Gesetz

Für Sie ist es selbstverständlich, dass alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter einen Arbeitsvertrag haben. In Japan ist es keine Selbstverständlichkeit. Die meisten traditionellen Großunternehmen in Japan haben keinen Arbeitsvertrag, den Arbeitnehmer und Arbeitgeber unterschreiben. Der Großteil der japanischen Arbeitnehmer weiß zum Beispiel nicht, wie lange die Kündigungsfrist ist.

Ich finde es vor allem in der Zeit der wirtschaftlichen Turbulenz positiv, dass die deutschen Arbeitsnehmer von verschiedenen Gesetzen geschützt sind. Zum Beispiel kennen die Japaner Kündigungsschutz, Sozialplan, Interessenausgleich oder Betriebsverfassungsgesetz gar nicht.

In vielen Unternehmen in Japan ist Betriebsrat machtlos oder praktisch ein Befehlsempfänger des Arbeitgebers. Seit Jahrzehnten gibt es in Japan keinen Streik mehr. In dem japanischen Fernsehsender, wo ich gearbeitet habe, hat der Abteilungsleiter jedes Jahr entschieden, wer für den Betriebsrat arbeitet.

Japan ist immer noch eine vertrauensbasierte Gesellschaft, wo Verträge nur noch eine untergeordnete Rolle spielen, während in Deutschland Verträge eine wesentliche Grundlage der wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Aktivitäten sind.

Als ich vor 20 Jahren nach Deutschland kam, fand ich zum Teil lästig, dass viele Sachen in Deutschland durch Vertrag geregelt werden müssen. Ich war überrascht, als ich zum ersten Mal hörte, dass manche Deutsche sogar Heiratsvertrag abschließen.

In Japan hatte ich noch nie in einer Wohnung gewohnt, die mit Hausordnung regelt, bis wie viel Uhr der Mieter mit Musikinstrument spielen darf und wie oft pro Monat auf dem Balkon grillen darf.

Nachdem ich hier 20 Jahre gelebt habe, finde ich positiv, dass viele Sachen in Deutschland mit Verträgen, Gesetzen, Ordnungen usw. geregelt sind, weil jeder dadurch auf schwarz auf weiß sieht, was man machen darf und nicht darf. Ohne Verträge würde es viel mehr Missverständnisse und Streitigkeiten geben.

Meiner Meinung nach spielen Verträge in Deutschland eine wichtigere Rolle als in Japan, weil Deutschland viel stärker als Japan vom Individualismus geprägt ist. In einer Gesellschaft, wo die Bürger und Gruppen verschiedene Interesse laut vertreten, ist schriftliche Festverlegung der Konditionen absolut notwendig.

Viele Japaner legen großen Wert auf Einvernehmen, Konsens und Harmonie. Aus diesem Grunde sind die Japaner nicht gewöhnt, einen Vertrag abzuschließen. Wenn ein Japaner darauf besteht, könnte es als Zeichen des Misstrauens angesehen werden.

4. Kunde und Verkäufer

Ein deutscher Bekannter, der einige Jahre in Japan gewohnt hatte, hat mir erzählt, dass er vom Umgangston der Verkäufer in einer Bäckerei gegenüber den Kunden schockiert wurde, weil er den höflichen Umgangston in Japan gewöhnt war. Er sagte mir, dass er von den Verkäufern in Japan wie ein König behandelt wurde.

Auch einige japanische Geschäftsleute, die nach Deutschland versetzt wurden, und ihre Familienangehörigen, berichten von ähnlichen Erfahrungen.

Das Ladenschlussgesetz, das vor 20 Jahren viel strenger als heute war, hat mich auch entsetzt. Einmal hat eine Verkäuferin in München die Tür des Ladens vor meiner Nase geschlossen. In Großstädten in Japan kann man 24 Stunden einkaufen.

Am Wochenende sind fast alle Geschäfte in Japan geöffnet. Aber mittlerweile liebe ich die Ruhe in den deutschen Städten am Sonntag. Viele Japaner in Deutschland haben sich sehr gefreut, als das Ladenschlussgesetz gelockert wurde.

Ich habe jedoch immer noch den Eindruck, dass generell der Service-Gedanke in Deutschland im Vergleich zu Japan noch nicht genug entwickelt ist. Ich möchte Ihnen über die Unterschiede der zwei Service-Kulturen erzählen.

Ich wollte in einem großen renommierten Hotel in Frankfurt am Main einchecken. Das Computersystem war ausgefallen, und die Hotelangestellten mussten die Gäste manuell einchecken. Ich habe die Schlüsselkarte bekommen und bin zu meinem Zimmer gegangen. Als ich die Tür des Zimmers aufmachte, habe ich bemerkt, dass jemand schon im Bett war.

Ich bin mit dem Gepäck zum Empfang zurückgegangen und habe der Angestellten gesagt, dass das Zimmer schon belegt war.

Die junge Angestellte, die einen genervten Eindruck machte, hat überhaupt kein Wort der Entschuldigung gesagt und stumm die Schlüsselkarte ausgetauscht. Sie hat nur Schulter gezuckt und hat gesagt, „ So etwas könnte immer passieren“.

Aus logischer Hinsicht ist einwandfrei, was diese junge Dame gesagt hat. Sie muss sich in Deutschland nicht entschuldigen, weil sie keine Schuld am Computerausfall hat. In Japan könnte jedoch solch ein Verhalten ein Kündigungsgrund sein. In Japan ist das Wort der Entschuldigung kein Schuldgeständnis, sondern ein Mittel, das die Reibung und Irritation unter den Menschen reduzieren soll.

Eigentlich wollte ich mich überhaupt nicht beschweren, dass sie einen kleinen Fehler gemacht hat. Fehler ist menschlich. Aber in Japan würde eine Hotelangestellte in solch einer Situation schon „Entschuldigung“ sagen, wenn der Kunde eine Unannehmlichkeit erlebt hat, auch wenn sie keine persönliche Schuld daran hat.

Deswegen hat ihr unfreundliches Verhalten bei mir einen schlechten Eindruck über das Hotel hinterlassen. Sie hat anscheinend nicht verstanden, dass eine kleine nette Geste im Dienstleistungsbereich wichtig ist. Und manche Gäste aus einer anderen Kultur könnten besonders empfindlich sein.

In Deutschland ist oft die Logik wichtiger als das Gefühl. In Japan ist es das Gegenteil. Der Anspruch der Kunden ist oft viel höher als in Deutschland.

Ich möchte Ihnen noch ein Beispiel nennen.

Nehmen wir an, dass ein Verkäufer mit einem potentiellen Kunden Visitenkarten ausgetauscht hat. Sie sind sozusagen potentielle Geschäftspartner. Der Verkäufer schickt einen Brief an den Kunden, um ihn über ein neues Produkt zu informieren und zu fragen, ob er ein Interesse daran hat.

In Japan ist es normal, dass der Kunde nicht zurück schreibt, wenn er viel zu tun hat und kein Interesse am Produkt hat. Ein Kunde schreibt zurück, nur wenn er Interesse hat. Der Verkäufer weiß, dass das Schweigen des Käufers „Nein“ bedeutet und ärgert sich daher nicht darüber.

Aber in Deutschland muss der Käufer schon zurück schreiben und kurz mitteilen, dass er kein Interesse hat, besonders wenn er den Verkäufer kennt. Sonst fühlt sich der Verkäufer ignoriert und kann verstimmt sein.

Ich habe einmal gehört, dass ein deutscher Geschäftsmann sehr verärgert war, weil sein japanischer Geschäftspartner auf sein Angebot zu einem Neuprodukt gar nicht reagiert hat. Dieser Deutsche kannte die Gewohnheit in Japan nicht, dass der Kunde nicht zurück schreiben muss, wenn er kein Interesse hat.

Der japanische Geschäftsmann kannte auch die Verhaltensregel in Deutschland nicht, dass die Deutschen eine Antwort auf seinen Brief erwarten, und dass man kurz zurück schreiben soll, auch wenn er kein Interesse hat.

Dieses Missverständnis ist darauf zurückzuführen, dass die beiden Geschäftspartner die Verhaltensregel der anderen Seite nicht gut gekannt haben. Ich persönlich finde es unhöflich, eine Anfrage nicht zu beantworten, egal in welchem Land ich arbeite. Wenn der Kunde keine Zeit hat, soll er mindestens kurz sagen, dass er die Anfrage später beantworten wird.

Diese Episode zeigt, dass ein Kunde in Japan davon ausgeht, dass er eine viel höhere Position als Verkäufer hat. In Deutschland habe ich den Eindruck, dass dieser Unterschied kleiner als in Japan ist.

In Deutschland ist es viel wichtiger als in Japan, einen Brief oder eine E-mail vom Geschäftspartner rechtzeitig zu beantworten. Mir gefällt die Leidenschaft der Deutschen ganz gut, Briefe oder E-mails gewissenhaft zu beantworten.

Was ich übrigens positiv in Deutschland finde ist, dass Ministerien der Bundesregierung oder Landesregierung meine schriftlichen Anfragen fast ausnahmslos beantworten. In Japan ist es unwahrscheinlich, dass ein ausländischer Journalist eine schriftliche Antwort vom Finanzministerium oder Außenministerium auf seine Anfrage bekommt.

 

5. Harscher Umgangston und Meinungsfreiheit

Kurz nach meiner Ankunft in Deutschland hat mich der direkte, kritische und manchmal harsche Umgangston in Deutschland gestört.

Ich finde es immer noch rücksichtslos, wenn ein deutscher Radfahrer laut schimpft, wenn ein Ausländer auf dem Radweg geht, weil er beim ersten Besuch in Deutschland den Unterschied zwischen dem Radweg und dem Bürgersteig noch nicht kennt.

Viele Japaner äußern kritische Meinung zurückhaltend und indirekt, um das Gefühl der anderen nicht zu verletzen. Die meisten Japaner sind konfliktscheu und an den Auseinandersetzungen nicht gewöhnt, auch wenn man sachlich argumentiert.

Nachdem ich hier 20 Jahre gewohnt habe, sehe ich jedoch nicht nur den Nachteil sondern auch den Vorteil des direkten Umgangstons. Mir gefällt schon, dass die Deutschen in den Besprechungen oder in den Briefen wenig Floskel sagen und sofort zur Sache kommen, weil man dadurch Zeit sparen kann.

Ich freue mich auch darüber, dass es hier mehr Meinungsfreiheit und Pressefreiheit als in Japan gibt. Ich finde die Diskussionen, Zeitungen oder Nachrichtenmagazine in Deutschland interessanter als in Japan, weil manche Leute kein Blatt vor dem Mund nehmen und ganz unverblümt ihre Meinungen äußern.

Diese Direktheit erlebt man im öffentlichen Leben in Japan ganz selten.

Ich bin manchmal beeindruckt, dass deutsche Journalisten auch prominenten Persönlichkeiten kritische, ja sogar provozierende Fragen stellen. Das kommt in Japan ganz selten vor.

Ich glaube, dass heftige Diskussionen in der Demokratie manchmal unvermeidlich und sogar notwendig sind. Deutschland ist meiner Meinung nach von der Diskussionskultur tief geprägt, was ich positiv finde.

Japan hat viel mehr Tabuthemen als in Deutschland, die man in der Öffentlichkeit nicht offen diskutieren kann, zum Teil aus Rücksicht auf die Betroffenen. In diesem Sinne gibt es in Deutschland mehr Meinungsfreiheit als in Japan.

Ein Beispiel ist die heftige Debatte zu den Äußerungen von Herrn Thilo Sarrazin. Ich persönlich habe auch Problem mit seinem Ton besonders in seinem Interview.

Auf der anderen Seite finde ich es wichtig, dass die deutsche Gesellschaft über die nichtausreichende Integration, den man jahrelang unter den Teppich gekehrt hatte, offen diskutiert.

Es ist zwar ein delikates, unangenehmes Thema. Ich persönlich finde es aber wichtig, die Sprache des Landes zu beherrschen, und die Kultur und die Gewohnheiten des Landes zu respektieren, wenn man in einem fremden Land wohnt.

In diesem Zusammenhang möchte ich auch darauf hinweisen, dass ich bisher in Japan nur wenige Europäer kennengelernt habe, die Japanisch gut sprechen. Eine hochausgebildete, junge deutsche Akademikerin, die versuchte, in Japan Geld zu verdienen, hat sich einmal vor mir beklagt, dass viele Japaner kein Englisch sprechen.

Es stimmt, dass die Kommunikation mit den Japanern auf Englisch nicht einfach ist. Aber meines Erachtens sollte man statt meckern die Sprache des Landes beherrschen, wenn man dort effizient arbeiten will.

6. Hilfe für fremde Menschen in Not und Zivilcourage

Die deutsche Gesellschaft ist meiner Meinung nach viel stärker vom sozialen Gedanken geprägt als Japan. Unter den Deutschen sehe ich eine größere Bereitschaft als in Japan, fremden Menschen in Not zu helfen.

An deutschen Bahnhöfen zum Beispiel sehe ich viel öfter als in Japan die Menschen, die für alte Menschen schwere Koffer oder Kinderwagen für eine Mutter tragen. Ich sehe auf den Straßen in Deutschland viel mehr Fußgänger als in Japan, die den Obdachlosen Geld geben.

Ich kenne einen deutschen Rentner, der die Spenden in Deutschland sammelt und jedes Jahr nach Indien fährt, um dort Waisenhäuser oder Krankenhäuser für arme Menschen zu bauen. Ich finde seine Tätigkeit großartig.

Bezüglich Hilfsbereitschaft für Menschen in Not und Zivilcourage müssen wir Japaner viel mehr von Ihnen lernen.

Meines Erachtens ist das Wort „Sozial“ ein Schlüsselwort, um Deutschland zu verstehen. Nachdem ich nicht nur in Deutschland sondern auch in Japan und den USA gearbeitet habe, neige ich zu sagen, dass die Soziale Marktwirtschaft in Deutschland das menschlichste, am meisten ausgewogene Wirtschaftsmodell ist. Ein Beispiel ist die Regelung der Kurzarbeit in Deutschland. Dank dieser Regelung konnten viele Unternehmen auch in der Finanzkrise hochqualifizierte Mitarbeiter behalten.

Die Soziale Marktwirtschaft kostet zwar den Staat und die Steuerzahler viel Geld, aber schützt nicht nur das Interesse von Unternehmen, sondern auch von Arbeitnehmern. Ich habe Ihnen gesagt, dass ich mein elftes Buch schreibe. Dieses Buch handelt von den Mittelstandsunternehmen und Tüftlern in Deutschland. Als ich für dieses Buch recherchierte, habe ich gelernt, dass das Wort „Vertrauenskapital“ in den deutschen Familienunternehmen eine große Rolle spielt. Wir Japaner können dieses Wort sehr gut verstehen, weil die japanische Gesellschaft wie gesagt eine vertrauensbasierte Gesellschaft ist, wo Verträge nicht so wichtig wie im Westen sind.

Ich glaube, dass die Soziale Marktwirtschaft dieses Vertrauenskapital fördert und wünsche mir, dass dieses Wirtschaftsmodell auch in Zukunft erhalten bleibt.

Nächstes Jahr feiern Deutschland und Japan das 150jährige Jubiläum des Beginns der Handelsbeziehung. Es ist bemerkenswert, dass diese zwei Länder solche lange Geschichte der Freundschaft haben.

Im Zeitalter der Globalisierung wird der internationale Austausch der Erfahrungen und Kenntnisse immer wichtiger.

Ich wünsche Ihnen und Ihrem Unternehmen weiterhin viel Erfolg und hoffe sehr, dass Sie Ihre Beziehungen mit Japan in Zukunft weiter vertiefen und ausbauen. 

Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.